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Tagebücher. 1, 1910 - 1911 / Erich Mühsam

Von: Mitwirkende(r): Materialtyp: TextTextSprache: Deutsch Reihen: Tagebücher Erich Mühsam. 1910 - 1911 ; 1\Gesamtaufnahme: TagebücherVeröffentlichungsangaben: Berlin, BRD Verbrecher Verlag 2011Auflage: 2. AuflBeschreibung: 351 S. 20 x 14 x 2,6 cm cmISBN:
  • 3940426776
  • 978-3940426772
  • € 28
Schlagwörter: Andere Klassifikation:
  • GM 4873
Online-Ressourcen: Schlagwort: Tagebuch der Jahre 1910-1911. Als "kulturgeschichtlichen Schatz" würdigt Andreas Fanizadeh den ersten Band (1910/11) der Tagebücher des Schriftstellers Erich Mühsam, der nun im Rahmen einer auf 15 Bände angelegten Werkausgabe erschienen ist. Der Band bietet für ihn nicht nur einen tiefen Einblick in das bohemistische Leben des 32jährigen Anarchisten und Künstlers, sondern geradezu eine "Sittengeschichte", die die Weite des anarchistischen Denkens damals insgesamt offenbart. Er findet in dem Tagebuch einen undogmatischen, humorvollen, bissigen Mühsam, einen Agitator und Kritiker, einen verfeinerten Schwärmer und Gegner von Preuß
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Bücher | Periodika Bücher | Periodika KL-bt-Müh-20-01-15 1 Verfügbar De-Müh-Er-0000020-01

Rezension
DER SPIEGEL 27/2011
Der Anarchist und die Mädchen

Von Hage, Volker

Er war Lyriker und Freigeist, ein Sonderling und Erotomane. Erich Mühsam, eine der verwegensten Gestalten der deutschen Literatur, hinterließ hinreißende Tagebücher. Jetzt werden sie komplett publiziert, in Buchform und parallel im Internet. Von Volker Hage

Prügel stehen am Anfang seines Lebens. Prügel stehen am Ende. Die einen beschreibt er selbst in seinem Tagebuch: die sadistischen Prügelstrafen des biederen und herrschsüchtigen Vaters. Über die anderen kann er nicht mehr berichten: Es sind Schläge im KZ Oranienburg im Juli 1934, gezielt und mit tödlicher Wut verabreicht von SS-Schergen.

Dazwischen ein wildes, hedonistisches, oft genug bitteres Leben: Als überzeugter Anarchist und kurzzeitiger Kommunist, als einer der Köpfe der Münchner Räterepublik und eines der ersten prominenten Nazi-Mordopfer ist Erich Mühsam in die Geschichte eingegangen.

Der 1878 geborene jüdische Apothekersohn war zugleich Revolutionär und Lyriker, ein Bohemien und Verächter aller Doppelmoral, er war politischer Häftling und belächelter Sonderling, ein mitreißender Redner und Frauenverehrer, leidenschaftlicher Liebhaber und früher Feminist, ein Mann mit ausgeprägtem Helfersyndrom - fast ständig in Geldnot und von bemerkenswerter Großzügigkeit gegenüber Freunden und jungen Damen.

Und er war ein so begnadeter wie besessener Chronist seiner selbst und seiner Zeit: 15 Jahre lang, von August 1910 bis Dezember 1924, hielt er in 42 Schreibheften fest, was er erlebt und provoziert, was er gesehen und gehört hat - bis ins intime Detail, rücksichtslos gegen sich selbst und andere, anschaulich und druckreif verfasst in einer fließend-flüchtigen Handschrift. Mitreißende Tagebücher, die sich mit den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts messen können und bisher weitgehend unbekannt waren.

"Ob sich in 80 oder 100 Jahren mal jemand findet, der meine Tagebücher der öffentlichen Mitteilung für wert halten und herausgeben wird, kann ich nicht wissen", schrieb Mühsam im Oktober 1910. "Niemand, der aus dem Tagesgeschehen und -Erleben heraus Notizen schreibt, kann deren Kulturdauer ermessen."

Jetzt, gut 100 Jahre nach diesem Eintrag, ist eine Gesamtausgabe der Tagebücher gestartet worden. Der erste Band mit Notizen aus den Jahren 1910 und 1911 erscheint in dieser Woche(*1). Der letzte ist

für Herbst 2018 geplant. Dann sollen die erhaltenen Mühsam-Tagebücher in 15 Bänden erstmals vollständig vorliegen. Bislang war nur eine kleine Auswahl im Taschenbuch auf dem Markt.

Als Mühsam am 22. August 1910, mit Anfang dreißig, während eines von der Familie finanzierten Kuraufenthalts in der Schweiz die ersten Sätze in einem frisch erworbenen Schreibheft notiert, hat er schon manchen Konflikt mit der Staatsmacht bestanden. In Berlin ist er 1903 als Agitator unter Polizeiaufsicht gestellt und drei Jahre später wegen eines Flugblatts verurteilt worden, zu einer - wiederum vom Vater bezahlten - empfindlichen Geldstrafe. Anfang des Jahres 1910 war er mehrere Wochen lang in Untersuchungshaft, ist am Ende aber freigesprochen worden.

Nun sitzt er im Sanatorium in Château d'Oex und hadert mit sich. Was kann er? Wo will er hin? Er hat Gedichte veröffentlicht, aber bislang nicht viel Anerkennung gefunden. Sein Theaterstück will keine Bühne aufführen. "Kurz, ich kann anfassen was ich will - nichts will mir glücken! Es ist, als ob an meiner Hand von Natur aus Pech klebte. Ich muss gradezu mit dem linken Fuß zuerst aus dem Mutterleibe gestiegen sein. Denn am Ende habe ich doch alles: Talent, Fleiß, Intelligenz und bin ein leidlich netter Mensch." Er muss es sich selber sagen, denn von daheim hat er wenig mitbekommen.

Der Vater hält den Sprössling für gründlich missraten. Als der Abgeordnete der Lübecker Bürgerschaft seinen 72. Geburtstag feiert, weilt Sohn Erich noch in der Schweiz und denkt an die Prügel, "mit denen alles, was an natürlicher Regung in mir war, herausgeprügelt werden sollte". Er erinnert sich daran, wie er Bücher lesen wollte, aber nicht durfte, wie er ein wenig Geld erschwindelte, um sich heimlich Bücher zu kaufen - und ihm wegen der "Unterschlagung" eine dreifache Tracht Prügel verabreicht wurde. An drei Tagen hintereinander hatte er sich "zum Empfang der Strafe zu melden". Etwas "Haarsträubenderes an viehischer Grausamkeit" sei wohl gegenüber einem 12- bis 13-Jährigen nie "ausgesonnen worden".

Auch eine Ohrfeige, die ihm Jahre später sein Vater verabreichte, weil der 18-Jährige einmal in den Ferien von einem Konzert verspätet heimkam, "brennt mir heute noch im Gesicht". Bitteres Fazit der über Seiten gehenden Abrechnung mit dem Tyrannen: "Die einzige Möglichkeit, dass ich leben könnte, wäre, wenn mein Vater stürbe."

Der Konflikt mit dem Vater hat den jungen Mühsam gelehrt, sich von Autoritäten nicht einschüchtern zu lassen. Zuspruch sucht er auf politischen Versammlungen. Die schmerzlich entbehrte Liebe - seine Mutter starb früh - findet er bei Freunden und in den Armen der Mädchen. Er kann nicht genug davon haben. Schier unüberschaubar sind die Namen, die Liebeleien und Affären. Er aber glaubt, "maßlos wenig Glück bei den Frauen" zu haben, denn: "Jede hat mich gern, aber keine liebt mich!"

Doch wenn ihn eine dann liebt, wie das Zimmermädchen in seiner Pension, begegnet er der jungen Frau mit wenig Herz und schreibt über sie mit kühlem Blick. Als merkwürdig verbucht er die Tatsache, "dass das zwanzigjährige Mädchen noch unberührt war" und "das gute Kind rasend in mich verliebt ist". Froh ist er, "dass ich endlich einmal - und doch hoffentlich für längere Wochen - sexuell versorgt bin". Dann ist von dieser Frieda erst ein Jahr später im Tagebuch wieder die Rede, und das auch nur, weil sie angerufen und ihm gestanden hat, ihn immer noch zu lieben. Er registriert es mit Stolz und vermerkt, er habe sie besucht und sei mit ihr ins Bett gegangen.

Zwei Wochen später, im September 1911, notiert er aber auch: "Die Emanzipation des Weibes wird das Bedürfnis nach einer Kultur wecken, die das Wesen der Frau mitberücksichtigt. Dadurch werden die Frauen selbst produktiv werden und alle Kultur wird um eine Hälfte bereichert werden, von der wir heute noch garnichts kennen. Eine Weltgeschichte, von einer Frau geschrieben - was für Perspektiven!"

Mühsam hat sich vorgenommen, in seinem Tagebuch ehrlich zu sein, "soweit ich es von mir selbst nur kann", er wolle auch "vor einer Entblößung meiner Geschlechtlichkeit" nicht haltmachen. Daran hat er sich gehalten.

Anfangs traut er sich selbst nicht zu, regelmäßig Tagebuch zu führen. Aber er unterschätzt sich: Beharrlich und in epischer Breite macht er seine Einträge, über längere Zeiträume hinweg sogar tagtäglich.

Literarische Absichten verbindet er zunächst nicht damit. Er kennt das grundsätzliche Problem von Tagebüchern: Die Zusammenhanglosigkeit der Bemerkungen hindere "die Entstehung eines literarischen Meisterwerks". Über den Wert von Tagebüchern entscheide "der Rhythmus der allgemeinen und persönlichen Ereignisse, die registriert werden".

Und doch wird er bald schon Freunden aus dem Manuskript vorlesen und es wie ein Stück Literatur behandeln. Das ist unter Tagebuchschreibern ein verbreitetes Missverständnis und oft nur hoffnungslose Selbstüberschätzung. Mühsams Werk zählt zu den Ausnahmen. Es bietet das richtige Mischungsverhältnis von privaten und öffentlichen Mitteilungen, ist Chronik des kulturellen und politischen Geschehens und ein Stück Sittengeschichte. Und der Klatsch aus der Münchner Kulturszene kommt auch nicht zu kurz.

Wie schillernd diese Aufzeichnungen tatsächlich sind, erweist sich nun bei der Edition des ersten Bandes. Er umfasst die Zeit vom Start des Tagebuchs bis zum Oktober 1911, eine friedliche und doch schon angespannte Phase vor dem Ersten Weltkrieg, er zeigt die Welt der literarischen Caféhaus-Boheme, des Kabaretts und des Theaters. Zahlreiche ehrgeizige, oft schon prominente Künstler tauchen auf und eigensinnige junge Frauen, die es zu eigenem künstlerischen Tun drängt.

Das Schicksal der mehrfach von der Vernichtung bedrohten Mühsam-Manuskripte ist eine atemraubende Story für sich, eine Geschichte, in der sich Hoffnungen und Tragödien der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gespenstisch spiegeln.

Als im Mai 1919 Reichswehr und Freikorps der nur wenige Wochen alten Münchner Räterepublik - zu deren treibenden Kräften Mühsam gehörte - brutal und blutig den Garaus machten, waren die Tagebücher in Sicherheit gebracht worden. Paradoxerweise durch die Polizei. Die hatte Mühsams Manuskripte beschlagnahmt und so vor der Wut der Konterrevolutionäre geschützt. Der Autor selbst saß derweil sicher im Gefängnis und wurde später zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt, von denen er 5 absitzen musste.

In der Haft setzte Mühsam sein Tagebuch trotz gelegentlicher Zensurkontrolle fort. Und bei der Amnestie Weihnachten 1924 wurden ihm sämtliche Hefte unversehrt ausgehändigt. Fortan schien ihm das Notieren von Gedanken und Ereignissen, die Nennung von Namen und Orten doch zu gefährlich zu sein. Er setzte das Tagebuch nach der Freilassung nicht mehr fort.

In Sicherheit waren die Hefte damit nicht. Als die Nazis Mühsam acht Jahre später, im Februar 1933, aus seiner Wohnung holten, waren die Manuskripte zwar bei Freunden versteckt - doch was sollte weiter mit ihnen geschehen? Mühsams Witwe ließ sich trotz Bedenken und Warnungen auf eine Einladung nach Moskau ein, übergab alles Material dem Maxim-Gorki-Institut zur Archivierung und Publikation - und wurde danach unverzüglich verhaftet und bis Mitte der fünfziger Jahre in verschiedene Lager verbannt.

Was Mühsam über den Sowjetkommunismus notiert hatte, konnte dem Terrorregime kaum gefallen. Von "den marxistischen Hanswursten in Moskau" ist da im Tagebuch die Rede (Oktober 1924), Stalin selbst wird als "Revolutionsgewinner" bezeichnet. Zugleich macht sich der Anhänger der Räterepublik keine Illusionen darüber, dass er von diesen Leuten als konterrevolutionär eingestuft wird, als Feind.

Und so werden die 42 Hefte in Moskau von der Geheimpolizei gleich einmal unter dem Gesichtspunkt durchforstet, Material für Anklagen und Verfolgungen zu finden. Sieben der Hefte sind bis heute nicht wieder aufgetaucht. Die anderen wurden dem Archiv des Gorki-Instituts zurückgegeben, immerhin noch rund 7000 handschriftliche Seiten.

Nach dem Ende von Stalins Herrschaft versuchte Mühsams Witwe, die inzwischen in Ost-Berlin lebte, wenigstens Kopien der Manuskripte zu erhalten. Die aber wurden per Mikrofilm nur den SED-Genossen anvertraut und blieben weitere zwei Jahrzehnte lang verwahrt.

Erst Mitte der siebziger Jahre konnte sich ein junger Lektor im Verlag Volk und Welt daran machen, eine Werkausgabe der Texte von Mühsam vorzubereiten. Chris Hirte erinnert sich heute an seinen "etwas hilflosen Versuch, sich diesem Material zu nähern". Tatsächlich konnte allen ideologischen Bedenken zum Trotz zwischen 1978 und 1985 eine vierbändige Ausgabe in der DDR erscheinen.

Für Hirte wurde Mühsam zu einer Lebensaufgabe. Er veröffentlichte 1985 eine Biografie über den Autor und hatte sich inzwischen auch der Tagebücher angenommen, die in der Werkausgabe nicht enthalten waren. Das Ost-Berliner Ministerium für Kultur stellte sogar rund 25 000 Mark zur Verfügung, damit die Handschriften transkribiert werden konnten.

Die Arbeit zog sich hin, die DDR verschwand von der Bildfläche, Hirte machte unverdrossen und ohne Auftraggeber weiter. Er wollte die Arbeit von vielen Jahren nicht verloren geben, gerade angesichts der Irrwege, die das Tagebuch Mühsams genommen hatte.

Irgendwann kam ihm die Idee, den gesamten Textkorpus mitsamt Verweisen und Anmerkungen ins Netz zu stellen, für jeden Interessierten zugänglich. "Das war mir das Wichtigste", sagt Hirte. "Ich glaube auch, dass das die Zukunft solcher aufwendigen und ansonsten sehr teuren Editionen ist. Auf diese Weise ist alles leicht erschließbar."

Und in der Tat: Die Internetpublikation (muehsam-tagebuch.de) ist eine Spielwiese für Leser und Philologen. Der Mitherausgeber Conrad Priens hat wesentlichen Anteil an der digitalen Einrichtung und Präsentation des Materials. Unter dem Datum jedes einzelnen Eintrags führt ein Klick unverzüglich zu der entsprechendem Handschrift. Jede auftretende Person wird, soweit möglich, erklärt und ist quer durch die Jahre zu verfolgen.

Das ist besonders hilfreich bei den amourösen Verstrickungen Mühsams, die im ersten Band trotz aller revolutionärer Visionen im Vordergrund stehen. Auf den Namen Frieda etwa hörten fünf verschiedene Frauen, die dem unermüdlichen Liebhaber nah oder weniger nah standen. "Wir hatten selbst unsere Mühe", sagt Chris Hirte, "das auseinanderzuhalten."
(*1) Erich Mühsam: "Tagebücher. Band 1: 1910-1911". Verbrecher Verlag, Berlin; 352 Seiten; 28 Euro.(*2) Mit Erich Mühsam (Kreis).

Tagebuch der Jahre 1910-1911. Als "kulturgeschichtlichen Schatz" würdigt Andreas Fanizadeh den ersten Band (1910/11) der Tagebücher des Schriftstellers Erich Mühsam, der nun im Rahmen einer auf 15 Bände angelegten Werkausgabe erschienen ist. Der Band bietet für ihn nicht nur einen tiefen Einblick in das bohemistische Leben des 32jährigen Anarchisten und Künstlers, sondern geradezu eine "Sittengeschichte", die die Weite des anarchistischen Denkens damals insgesamt offenbart. Er findet in dem Tagebuch einen undogmatischen, humorvollen, bissigen Mühsam, einen Agitator und Kritiker, einen verfeinerten Schwärmer und Gegner von Preuß

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